Der Kirschgarten

 

Komödie in vier Akten von Anton Tschechow // Deutsch von Andrea Clemen

R: Uwe Eric Laufenberg
B: Matthias Schaller
K: Jessica Karge
D: Georg Kehren

Mit:
Angelica Domröse (Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, eine Gutsbesitzerin)
Ulla Schlegelberger (Anja, ihre Tochter, 17 Jahre alt)
Chris Pichler (Warja, ihre Adoptivtochter, 24 Jahre alt)
Helmut G. Fritzsch (Leonid Andrejewitsch Gajew, Ranjewskajas Bruder)
Michael Scherff (Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, ein Kaufmann)
Henrik Schubert (Pjotr Sergejewitsch Trofimow, ein Student)
Roland Kuchenbuch (Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik, ein Gutsbesitzer)
Sigrun Schneggenburger (Charlotta Iwanowna, eine Gouvernante)
Matthias Hörnke (Semjon Pantelejewitsch Jepichodow, ein Kontorist)
Caroline Lux (Dunjascha, ein Dienstmädchen)
Günter Rüger (Firs, ein Diener, ein Greis von 87 Jahren)
Ulrich Rechenbach (Jascha, ein junger Diener)

Hans-Otto-Theater Potsdam

P: 14. Mai 2009

© Hans-Otto-Theater Potsdam

 

„Wir werden einen neuen Garten pflanzen, reicher als dieser.“  Anja in „Der Kirschgarten“.

Die mondäne Gutsbesitzerin Ranjewskaja und ihr Umfeld zehren vom Glanz vergangener Tage. Der familieneigene Landbesitz, zu dem der angeblich schönste Kirschgarten des Gouvernements gehört, ist hoch verschuldet, auch wenn es niemand so richtig wahrhaben will. Eigentlich kann man sich die zur Schau getragene Nichtachtung der materiellen Notwendigkeiten und die damit verbundene Verachtung für den Kaufmann Lopachin, den Prototyp einer neuen aufsteigenden Schicht, also nicht leisten. Dennoch tun die Ranjewskaja und ihr Bruder so, als könnten sie es.

Eine Möglichkeit, den Ruin abzuwenden, zeichnet sich kurzzeitig ab: Die Kirschbäume müssten gefällt werden, um auf dem frei werdenden Gelände rentable Sommerhäuser zu errichten. Diese Lösung hat keinen Platz in der Gedankenwelt der Ranjewskaja. Stattdessen wird ein großes Fest gegeben, das letzte dieser Ära.

Nachdem sie das Heft des Handelns endgültig aus der Hand gegeben haben, bleiben der gewesenen Gutsherrin und ihrem Anhang nichts als die Abreise mit ungewissem Ziel.

Und der Kirschgarten? Er wird schlussendlich doch abgeholzt, von Vertretern einer neuen Zeit, an die ebenfalls irgendwann die Frage gerichtet werden darf, um was es ihnen eigentlich zu tun war und was sie auf diesem Weg erreicht haben.

In Anton Tschechows letztem Schauspiel, 1904 im Moskauer Künstlertheater durch Konstantin Stanislawski uraufgeführt, verbinden sich psychologisch genaue Figurenzeichnungen mit der unsentimentalen Schilderung einer gesellschaftlichen Zeitenwende. Tschechow starb ein halbes Jahr später 44-jährig an Tuberkulose. Dieses Stück, das sich sein Autor im Vorfeld „unbedingt komisch, sehr komisch“ gewünscht hatte, ist somit in mehrfacher Hinsicht vom Abschied bestimmt – in diesem besonderen Falle umso mehr, als sich Uwe Eric Laufenberg mit dieser Inszenierung als Intendant vom Hans Otto Theater und seinem Potsdamer Publikum verabschiedet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Plötzlich ist der ganze Plunder fort, all die Bühnen-Illusionen, die uns ein altes russisches Landgut und eine längst untergegangene Epoche vorgaukeln wollten, sind wie weggezaubert. Über die leere, von Leuchter und Bücherschrank, Klavier und Schaukelpferd befreite Bühne wankt der greise Diener Firs (Günter Rüger). Das Landgut ist verkauft, die Menschen haben sich in alle Winde verstreut. Nur den Alten, der sich zum einsamen Sterben hinlegt, den haben sie einfach im Haus vergessen. Abschiede sind schmerzlich, fordern Opfer. Das Alte verschwindet, und das Neue macht Angst. Nach fünf Jahren als Intendant verabschiedet sich Uwe Eric Laufenberg am Hans- Otto-Theater mit einer Inszenierung von Tschechows „Der Kirschgarten“. Ein beziehungsreicher Abschied: Denn während im 1904 uraufgeführten Drama gleich eine ganze Epoche zu Ende geht und das Alte dem Neuen weichen muss, verabschieden sich auch viele Schauspieler mit dieser Inszenierung aus Potsdam: Es ist eine konzentrierte, von allen modischen Mätzchen befreite Aufführung, über der ein Hauch melancholischer Komik schwebt. Die Bühne (Matthias Schaller) erinnert über weite Strecken an alte Schaubühnen-Inszenierungen von Peter Stein aus den 1980er Jahren: große Zimmerfluchten, realistische Requisiten, aus dem Off Pferdegetrappel und Eisenbahngeräusche. Doch naturalistische Atmosphäre und psychologischer Realismus, Text- und Werktreue sind das eine, zeitlose Aktualität das andere. Denn es geht Laufenberg nicht um den Abschied von den feudalen Faulenzern, es ist auch keine Hommage an die kommende Revolution. Der Kirschgarten, der den Äxten zum Opfer fällt, wird zur Metapher für die Erinnerungen an eine schöne Vergangenheit. Diese Ambivalenz, der Schmerz der Erinnerung hier, die Schönheit der Erneuerung dort, das zeigt Laufenberg wunderbar im vierten und letzten Akt: Die realistisch-naturalistische Bühne ist plötzlich leer und weit, wir sind im Hier und Jetzt, im Überall und Jederzeit, Abschied ist immer zugleich Trauer und Aufbruch. Angelica Domröse spielt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja, Michael Scherff den Kaufmann Lopachin, der das Gut erwirbt und die Kirschbäume fällen lässt. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille, der eine hat das, was dem anderen fehlt. Die Domröse schlingert auf einer Gefühlsachterbahn, sie ist eine verletzliche und kindliche, weltabgewandte und realitätsblinde Träumerin. Scherff ist ein lauter, proletenhafter Tat- und Machtmensch, der zwar weiß, wie man Geschäfte macht, aber keine Ahnung von den Menschen und der Liebe hat. Laufenberg verschafft aber auch anderen Darstellern große Auftritte und intensive Momente. Die Entdeckung des Abends ist Chris Pichler in der Rolle der Adoptivtochter Warja: Wie das Leben und die Liebe sie fast zerreißt, das tut weh. Die Inszenierung wirft keine neue Sicht auf Tschechow, aber sie ist ein starkes Stück Theater und ein würdiger Abschied: Denn Laufenberg hat Enormes geleistet. Dem vorher lustlos vor sich hindümpelnden Theater hat er ein neues Gesicht gegeben, die schwierige Übergangsphase zwischen ungeliebter, provisorischer Blechbüchse und schicker neuer Theater-Auster gut gemeistert. Mit seinem „Unterwegs“-Projekt wurden neue Spielorte erkundet („Jenny Treibel“ in einer Villa, „Krieg und Frieden“ in einer Kirche), mit Schauspiel-Stars wie Katharina Thalbach, Angelica Domröse, Katja Riemann wurde Kasse gemacht. Aber Laufenberg hat auch Regietalent Petra Luisa Meyer freie Hand gelassen für freches, frisches Theater. Schauspieltalente, ob Anne Lebinsky oder Nicoline Schubert, Tobias Rott oder Moritz Führmann, durften sich in Ruhe entfalten. Laufenberg hat sich als Team-Player gezeigt und gern auch anderen Regisseuren die Lorbeeren gegönnt. Verglichen mit dem Dekonstruktionstheater eines Frank Castorf oder dem Debatten-Theater eines René Pollesch mögen Laufenbergs Inszenierungen (von der „Winterreise“ bis zu „Nathan, der Weise“) etwas Konventionelles anhaften. Aber das muss ja nichts Schlimmes sein. Im Gegenteil. Es ist Theater für die Zuschauer und ein Fest für die Schauspieler.

Märkische Allgemeine Zeitung, 18.05.2009

Auf ins Ungewisse

von Christoph Funke
der Tagesspiegel
17.05.2009

Regelrecht wütend hat Anton Tschechow darauf bestanden, dass sein 1903 schon in Phasen schwerer Erkrankung geschriebenes, im Januar 1904 uraufgeführtes Theaterstück „Der Kirschgarten“ eine Komödie sei. In Briefen und Gesprächen verteidigte er seinen Standpunkt. „Ich schreibe vom Leben“, teilte er Freunden mit. „Es ist graues, spießbürgerliches Leben. Aber es ist kein klägliches Gejammer.“ Wenn Tschechow Abschiede beschwört, die sich oft quälend lange hinziehen, öffnet er zugleich, heiter und gelassen, Aussichten auf neue, wenn auch unsichere Lebensmöglichkeiten. Uwe Eric Laufenberg, der mit dem „Kirschgarten“ die letzte Inszenierung seiner fünfjährigen erfolgreichen Intendanz am Potsdamer Hans-OttoTheater vorlegt, nimmt diese Beschwörung eines Endes und eines Anfangs auf und schreibt im Programmheft: „Deswegen werden heute noch einmal sehr alte Theatergeister herbeigerufen.“

Der Satz ist auslegbar, zwiespältig. Bewahren will Laufenberg, was es „vielleicht irgendwann“ nicht mehr geben wird. Rückzug und freundliche Einladung an die Kommenden? Die Bühne von Matthias Schaller weist ins Gestern. Mit einem geradezu trotzigen Bekenntnis zu Wirklichkeitstreue und Solidität sind die riesigen Zimmer des Gutshauses der Ranjewskaja aufgebaut. Feste Wände, wuchtige Decke, herrschaftliches Mobiliar, gläserne Schiebetüren, Kronleuchter – alles ist an seinem Platz, schafft üppige Räume, und macht die Spieler, seltsamerweise, klein. Sie verlieren sich in der Weite, der Tiefe des Bühnenbilds.

Oder ist das ungerecht? Laufenberg schwebt offenbar vor, in der Perfektion von Bürgerlichkeit das Fremde, Unwohnliche, ja Unheimliche einer gekünstelten „Heimat“ zu zeigen, die nur in der Erinnerung oder im Traum lebt, längst aus jeder Wirklichkeit herausgefallen. So führt er die Darsteller. Es ist, als läge ein feiner Nebel über diesen einst Reichen, Anspruchsvollen, Hoffnungsfreudigen, nun aber Gestrandeten. Sie wissen um das Ende, sie haben sich ergeben, nur kurz flackert Widerstand gegen das Unabänderliche auf. Der Kirschgarten blüht zwar noch in seinem letzten Frühling, ist aber längst nutzlos geworden. Und wenn der Herbst gekommen ist, hat das Gut einen neuen Besitzer, wird ausgeschlachtet, die Bäume fallen unter der Axt – alle gehen weg, irgendwohin, ins Ungewisse.

Der Schlüssel für die zurückhaltende, vorsichtige Inszenierung liegt in der Deutung der Gutsbesitzerin Ranjewskaja. Angelica Domröse, zart und schmalgliedrig, spielt sie fast leise, gebändigt, nachdenklich. Und mit anrührender Verletzlichkeit verkörpert sie ein Wesen, das sich noch nicht gefunden hat und nicht mehr finden wird.

Mal ist diese Frau, die ihr Gut nicht retten kann, ein kindlicher Trotzkopf, dann ein spätes, verwirrtes Mädchen oder das stolze, liebende Weib mit einer Neigung zur Lasterhaftigkeit. Angelica Domröse verleiht ihr eine irritierende Fremdheit bis hin zur Pose, aber stattet sie auch mit wacher Aufmerksamkeit bei denen aus, die auf ihren Schutz bauen. Geht es um die Verteidigung der Liebe gegenüber dem verstiegenen Pathos des ewigen Studenten Trofimow, zeigt Domröse eine hochschießende Leidenschaft, die jede Etikette wütend missachtet – da ist die Frau, die leben will, nichts anderes. Das andere Extrem: Bei der Nachricht vom Verkauf des Gutes lässt sie die Ranjewskaja wie unter einem Frosthauch im Sessel zusammensinken, sich in eine Decke wickeln, gefangen in Stummheit und Starre.

Laufenberg will auch die anderen Figuren aus einem tiefen Verständnis erklären. Er meidet alle Zuspitzungen, er leidet mit ihnen, trotz aller Absonderlichkeiten. Menschen kommen auf die Bühne, die gefangen sind in einer vergehenden Welt und auch mit dem brutalen Zusammenbruch ihres bisherigen Daseins keine Freiheit gewinnen werden. Das Ensemble folgt ihm in dieser Haltung sorgsam und feinfühlig, wobei sich besonders Chris Pichler als mühsam beherrschte Stieftochter Warja und Günter Rüger als uralter und dennoch würdevoller Diener Firs einprägen. Aber reicht das aus?

Die Sorge des scheidenden Intendanten, dass „Der Kirschgarten“ bald Neuerem, anderem weichen könnte, kommt eben doch aus einer schwer nachvollziehbaren Resignation. So wie jetzt in Potsdam wird das Stück ganz sicher nicht mehr gespielt werden. Tschechow, der nie ein „Greiner“ war oder ein Gefühl der Verzagtheit hervorrufen wollte, ist uns doch gerade nahe, weil er das Verflochtensein menschlicher Schicksale in unsichere Wirklichkeiten, in das Werden und Vergehen gesellschaftlicher Strukturen und ethischer Postulate einzigartig erfasst hat. Versuche, Zauber und Weisheit dieses Menschenkenners auf dem Theater zu beschwören, die einzigartige Welt seiner Figuren ins Schwingen zu bringen, gibt es doch nicht erst seit Jürgen Gosch.

Warum Laufenberg sich derart zurückhält und zu den alten Theatergeistern flüchtet, bleibt eine Frage ohne Antwort.