Der Freischütz

 

Carl Maria von Weber
ML: Christoph Gedschold
R: Christian von Götz
B: Dieter Richter
K: Jessica Karge
L: Michael Münster
D: Heidi Zippel
P: 10.03.2017 Wiederaufnahme: 7.10.2017 | 19.10.2018 |  20.04.2019 | 06.05.2023

OPER LEIPZIG

 

Agathe Gal James
Ännchen Magdalena Hinterdobler
Samiel Verena Hierholzer
Max Thomas Mohr
Kaspar Tuomas Pursio
Kuno Karel Martin Ludvik
Kilian Jonas Böhm
Ottokar Franz Xaver Schlecht
Eremit Runi Bratterberg
Chor Oper Leipzig
Gewandhausorchester Leipzig
Statisterie

 

Fotos: © Ida Zenna

Rezensionen:

 

Handzahme Geisterstunde:

Christian von Götz inszeniert Webers „Freischütz“
von Martin Schöler
Leipziger Zeitung
7. März 2017

Christian von Götz inszeniert Webers „Freischütz“ in der Messestadt weitgehend werkgetreu im Stile des Achtziger-Regietheaters. Die Gespensteroper (Uraufführung 1821) in der Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts. War das notwendig? Das Leipziger Publikum spendete der Neuproduktion nach drei Stunden lediglich verhaltenen Applaus.
Von Götz lässt die Geschichte um Max’ Pakt mit dem Teufel in einem heruntergekommenen Landhaus spielen, das Bühnenbildner Dieter Richter auf der Drehbühne platziert hat. Ein zweiter Schauplatz ist Agathes Schlafgemach, das sich auf einer Außenseite des rotierenden Bühnenbaus befindet. Ein Bett, ein Schrank, ein Kruzifix an der Wand. Das Verhältnis von Gott und Satan ist eines der zentralen Motive des Werks. Von Götz arbeitet sich in erster Linie am Satansmotiv ab. Der schwarze Ritter Samiel (Verena Hierholzer) erscheint durchweg als tänzerisches Gespenst, das Max, Kaspar und Agathe für sich zu vereinnahmen versucht.
Während der berühmten Wolfsschluchtszene darf die Bühnentechnik zeigen, was sie auf dem Kasten hat. Teile des Bühnenbilds trotzen den Gesetzen der Schwerkraft, Samiel tanzt zusammen mit sechs Spielgefährtinnen, die die sechs Freikugeln symbolisieren, auf einem Berg voller Knochen, Rauch und Nebel untersetzen die gespenstische Szenerie. Der einzige visuell starke Moment in der Inszenierung, der jedoch keinesfalls revolutionär ist, sondern vielmehr den Anfängen des Regietheaters der Siebziger und Achtziger entlehnt sein könnte. Ansonsten bedient sich von Götz plumper Choreografien, um vor allem den personenstarken Chor in Szene zu setzen. Doch ausgerechnet der bekannte Jägerchor klingt wie eine Parodie desselbigen. 
Bevor Max (Thomas Mohr) seine Agathe (Gal James) heiraten darf, muss er den Probeschuss erfolgreich absolvieren.
Da von Götz stark der Fabel verhaftet ist, bleiben narrative Überraschungen aus und der Regisseur vermag es nicht, sich mit Webers philosophischen Ansätzen auseinanderzusetzen. Der Inszenierung haften darüber hinaus keinerlei Gegenwartsbezüge an, was den Abend nicht aufregender macht. So lässt von Götz die zehnminütige Ouvertüre über weite Strecken vor einem übergroßen Gemälde der Wolfsschlucht spielen. Die inneren Konflikte der Figuren werden routiniert heruntergespielt.
Tuomas Pursios Auftritte zählten zu den wenigen Höhepunkten eines weitgehend glanzlosen Opernabends. Foto: Ida ZennaTuomas Pursios Auftritte zählten zu den wenigen Höhepunkten.
Neben einer farblosen Inszenierung hatte der Premierenabend auch musikalisch wenige Glanzlichter zu bieten. Thomas Mohr (Max) blieb häufig unterkühlt. Gal James (Agathe) Sopran ließ an Durchschlagskraft und Tiefe vermissen. Die gesprochenen Dialogtexte ratterte die Israelin herunter, ohne die Botschaften dahinter zum Zuschauer transportieren zu können.
Tuomas Pursio (Kaspar) lief dagegen zu Höchstform aus und erwies sich abermals als starker Charaktersänger mit Freude am Schauspiel. Magdalena Hinterdobler (Ännchen) war stimmlich stets präsent. Die Sopranistin wäre sicher auch für die Agathe eine gute Wahl gewesen.

Den Wald gibt es schon wieder nicht – Webers „Der Freischütz“ an der Leipziger Oper

von Roland H. Dippel
nmz – neue musikzeitung
05.03.2017

 

Die letzte Produktion von Webers „Der Freischütz“ an der Oper Leipzig hatte wenig Glück, bemängelt wurden an der Inszenierung von Guy Joosten zu viel „Schlachthaus“ und „Rotlichtmilieu“. Für die Neuproduktion verspricht die Oper Leipzig jetzt Naturromantik, Liebesromantik, Schauerromantik – versetzt ist dieser Prüfstein der Musiktheater-Regie von „kurz nach Beendigung des dreißigjährigen Kriegs“ beim Textdichter Friedrich Kind in das Jahr 1919, nach dem ersten Weltkrieg. Christian von Götz, mehrfach von der Zeitschrift „Opernwelt“ für Auszeichnungen nominiert, nennt als ihn umtreibende Zentralaspekte „Hexensabbat“, „Teufelspakt als Phantasieprodukt“ und „Dreieckverhältnis“.

Die Jägerbraut Agathe poliert sorgfältig und ausdauernd einen Gewehrlauf, die geweihten Rosen stehen bereit. Bei Christian von Götz wird sie von der visionär Übersensiblen zur etwas beherzteren Frau, die mit lärmenden Volksvergnügungen absolut nichts anzufangen weiß. Stumm sitzt sie beim Schützenfest daheim und am Ende schließt sich hinter ihr die Tür. Max bleibt nach dem eskalierten Probeschuss mit geplatzten Hoffnungen auf Agathe und ihre Mitgift ganz allein, verlassen genauso von Jägergefährten, Erbförster Kuno und Fürst Ottokar. Doch schon davor hat Agathe mit dem vorbestimmten Verlobten eher wenig zu schaffen. Ihre Freundin Ännchen kramt zur Polonaise vom „schlanken Bursch“ einen Knabenakt in Postergröße unterm Neorokokobett hervor, den sie als Komplizin der Braut bei Max‘ spätem Besuch im auf Art-Déco renovierten Damenschlafzimmer von der Wand reißt. Davor geht Kilians provokativer Schuss Richtung Maßkrug auf dem Kopf einer Frau, die benommen davonwankt.

Zu Marsch, Ländler und Tabledance wirbeln rote und grüne Festtagsschürzen. Alle kriegsbedingten Zerstörungsspuren hat man feinsäuberlich weggeputzt aus der riesigen Scheune, in deren frisch getünchten Mauern Dieter Richter eine beeindruckende Eisengalerie setzt. Mit Prunktrachten und Jägerhüten zaubert Jessica Karge Ausgelassenheit zu Wein, Weib, Gesang – für Sachsen ist „Der Freischütz“ ja ein Fast-Regionalfestspiel. Wohl auch dafür gibt es zum „schönen grünen Jungfernkranz“ ein spontanes Bravo. Alexander Stessin zeigt das Gütesiegel des Opernchors vom anfänglichen „Viktoria“ bis zum Schlussgebet: Schöne und vitale Pracht, als ginge es gleich zur „Verkauften Braut“ ins Nachbardorf.

Die Nachtseite ist kurz, aber dafür umso beeindruckender und heftiger. Nicht nur in der wirklich gelungenen Wolfschlucht-Szene – jetzt glimmert aus der Scheune fahles Türkis – bleibt Teufelshelfer Samiel in vielerlei Gestalt allgegenwärtig: Schöne Braut, tote Maid, schaurige Leiche… Verena Hierholzer flüstert die bedrohlichen Rufe nur und sie sind so grausig gesampelt, dass es über Webers genialer Instrumentation mehrstimmig plärrt. Zum Steinerweichen. Kaspar muss sich übergeben, wenn ihn der Schwächling Max vor den vervielfachten Samiels mit Gewehrschüssen attackiert, immer wieder. Kaspar begehrt von der ausweichenden Agathe einen Kuss und robbt verblutend auf sie zu. Das sagt mehr als alle Worte. Dieser Kaspar ist das beseelende Herz der Inszenierung und sein Sängerdarsteller Tuomas Pursio, für ihn bereits die vierte Produktion mit dieser Rolle, auf der Bühne der wichtigste Mitspieler von Opernkapellmeister Christoph Gedschold. Mit kleinen Bewegungen umreißt Tuomas Pursio das ganze große Schicksal eines Kriegsheimkehrers und Verlierers. Gestochen scharf sitzen bei ihm die Skalen der „Schweig!“-Arie, forcierte Dämonie hat er nicht nötig.

Mit einem starken, stimmigen, auch herzlichen Gestaltungswillen holen Christoph Gedschold und die von ihm immer weiter gereizten Musiker alle denkbaren Schärfen aus der Partitur. Jedes Solo, jede Hörnerinnigkeit, jedes Posaunendrohen, jeder Wechsel von Tutti-Stößen zu Streicherweben sind sekundenkurze Minidramen für sich. Der Schönklang des Gewandhausorchesters macht bewundern durch Aggressionsschübe in hier genau richtigen Momenten.

Vom Leipziger „Götterdämmerung“-Siegfried findet Thomas Mohr zum Jägerburschen Max, er zeigt ihn als Opfer von Versagenskrisen mit Riss zwischen Baritonfundament und kräftigem Tenorstrahl. Die Angst des Schwächlings, den es nach verordnetem Brautentzug mit Probejahr wie Kaspar zuvor zur grausamen Überfrau Samiel drängt, wird vor allem musikalisches Ereignis. Ebenso die Beschwichtigungsfloskeln des hier weniger wirbeligen als resoluten Ännchens. Magdalena Hinterdobler bleibt den Sangesfluten Agathes bemerkenswert dicht auf der Spur und kontert ebenbürtig mit sinnfällig geschärften Spitzentönen. Der neue Ensemblesopran Gal James macht Agathes „stille Weise“ zum fülligen Bravourakt und Zeitstopper. Das Drama ragt aus den drangvollen Gesten des Orchesters. Das zeigt sich auch beim Eremiten, den Rúni Brattaberg als mit Obrigkeiten paktierenden und polternden Landpfarrer spielt. Erst recht beim Jägerchor, vor dessen Glanz und Gläseranstoßen Jonathan Michie als Machtzombie Ottokar blass bleiben muss. Und Jürgen Kurth als Erbförster Kuno zieht es, so scheint es, weit mehr in die Amtsstube als in den hier nur als kahlen Holz- und Wurzelhaufen sichtbaren Wald. Genau: Den Wald, heimlicher Protagonist des „Freischütz“ in Wort und Ton, gibt es schon wieder nicht. Dankbar langer Applaus.

Opern-Kritik: Oper Leipzig

Der Freischütz
Traditionelle Optik, heutiger Blick

von Andreas Falentin
Concerti

6. März 2017

Regisseur Christian von Götz schafft in seiner Sicht auf von Webers immergrüne Waldesromantik das scheinbar Unmögliche

 

 

Nach wie vor ist „Der Freischütz“ ein Lieblingsstück des deutschen Opernpublikums, was vor allem der im Doppelsinn romantischen Atmosphäre und der geradezu volksliedhaft eingängigen Melodik geschuldet ist. Gerade diese, aus heutiger Sicht für viele Menschen naiv anmutende Grundierung lässt aber – im Zusammenspiel mit etlichen größeren und kleineren Absurditäten und Unwahrscheinlichkeiten des Librettos und den ausufernden Dialogen – eine packende und stimmige Wiedergabe dieses in der Musiktheatergeschichte allein dastehenden Werkes zu einer nahezu unmöglichen Aufgabe werden. Dem Regisseur Christian von Götz ist jetzt in Leipzig genau das gelungen.

 

Die Ängste, die verdrängte Schuld, die Abgründe einer erstarrten Männergesellschaft

Mit vielen eigenwilligen, erkennbar aus Partitur und Libretto entwickelten Details schließt er bewusst an die Aufführungstradition an und kultiviert doch einen ganz eigenen, heutigen Blick. In dessen Mittelpunkt steht Samiel, hier eine Kindfrau als Gefäß für die Ängste, die verdrängte Schuld, die Abgründe einer in billigen Ritualen erstarrten Männergesellschaft. Oft steht die ungemein ausstrahlungsstarke Tänzerin Verena Hierholzer von allen unbemerkt auf einer Fensterbank des von Dieter Richter als Hauptspielort der Handlung erdachten trutzigen Gasthauses, das mittels eines großen Spiegels und einer ein wenig dürftigen Baumwurzellandschaft auch zur Wolfsschlucht mutiert – und betrachtet alles mit geradezu fühlbarer Wut und noch stärkerer Verlorenheit. Immer wieder durchmisst sie langsam den Raum, taucht überraschend irgendwo auf und trägt mit dem Jägerburschen Kaspar eine Art das ganze Stück überspannenden Privatkrieg aus.
Zwischen Thriller und absurdem Theater
Tuomas Pursio gelingt mit elastischem, dunkel schimmerndem Heldenbariton eine außergewöhnliche Figur, ein attraktiver Kraftkerl mit wildisch ungewaschenem Charme und gleichzeitig ein haltloses, nach allem Möglichen süchtiges, ungeheuer einsames Kriegswrack. Im Gegensatz zu vielen anderen Inszenierungen versteht man nur zu gut, warum Agathe ihn früher einmal Max deutlich vorgezogen hat. Den wiederum zeigt Thomas Mohr mit feiner Selbstironie, klarer Höhe und sensationellem, tragfähigen Piano als frühalten Wirrkopf, in dessen Hand ein Gewehr schlicht und ergreifend fehlplatziert ist. Auch die Nebenrollen, voran Runi Brattabergs fast monströs sonorer Eremit, Jonathan Michies lakonischer Ottokar und Patrick Vogels ungewohnt eleganter und schönstimmiger Kilian, sind außergewöhnlich prägnant erfasst, auch und gerade in den Dialogen, die generell teilweise gutes Sprechtheaterniveau erreichen, was bekanntermaßen eigentlich eine Unmöglichkeit auf der Opernbühne ist. Mehrere Szenen des von Jessica Karge so konventionell wie stimmig in Trachtenähnliches gewandeten, sehr spielfreudigen, auch musikalisch hervorragenden Chores entwickelt von Götz aus eingefrorenen Tableaus, die Zugnummern des Stückes, den Jungfrauen- und den Jägerchor, formt er zu witzig entspannten Kabinettstückchen. Das Finale pendelt mitreißend zwischen Thriller und absurdem Theater.

 

 

Eine handwerklich bestechende Produktion

Christoph Gedschold steuert mit dem Gewandhausorchester einen brillant gestaffelten, transparenten Klang bei und präpariert immer wieder das Bühnengeschehen auslösende, kommentierende oder konterkarierende Einzelstimmen heraus. Allerdings wählt er seine Tempi oft derart breit, lässt er die Generalpausen derart lange stehen, zelebriert er „schöne Stellen“ so deutlich, dass der an sich mitreißende Abend mehrfach seinen Fluss zu verlieren droht und Gal James als Agathe mit ihrer großen, bekannt schweren Arie erheblich mehr zu kämpfen hat, als eigentlich nötig wäre. Dennoch ist der Oper Leipzig mit diesem „Freischütz“, der frisch in den Lehrplan der sächsischen Gymnasien aufgenommen wurde und daher in den nächsten Jahren zumindest in diesem Bundesland wohl häufig zu sehen sein wird, eine außergewöhnliche, handwerklich bestechende Produktion gelungen.