Die Hochzeit des Figaro

W. A. Mozart

ML: Konrad Junghänel
R:
Uwe Eric Laufenberg
B: Gisbert Jäkel
K: Jessica Karge
L: Andreas Frank
Ch: Albert Horne
D: Daniel C. Schindler
Hessisches Staatstheater Wiesbaden

P: 06.09.2020 

Graf Almaviva Benjamin Russel | Christopher Bolduc
Gräfin Almaviva Slávka Zámečníková | Cristina Pasaroiu
Susanna Anna El-Khashem
Figaro Konstantin Krimmel
Cherubino Heather Engebretson | Silvia Hauer
Marcellina Franziska Gottwald
Basilio Erik Biegel
Don Curzio O. Navarro-Turres
Antonio Wolfgang Vater
Barbarina Michelle Ryan
Bartolo W. Matthias Friedrich

Chor & Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Foto: © Karl und Monika Forster

Rezensionen:

 

Staatstheater Wiesbaden:

Oper, als wäre sonst nichts

von Axel Zibulsk
Aktualisiert am

 

 

In Gioacchino Rossinis 1816 uraufgeführtem „Barbier von Sevilla“ leistet Figaro, gesellschaftlich bestens vernetztes Faktotum der andalusischen Stadt, ganze Arbeit, um dem Grafen Almaviva die Hochzeit mit der jungen Rosina zu ermöglichen. Was dann geschieht, behandelte schon Wolfgang Amadeus Mozart in seiner drei Jahrzehnte älteren „Hochzeit des Figaro“.

Aus Rosina ist die Gräfin geworden; nun möchte Figaro selbst deren Zofe Susanna heiraten, als der Graf sein feudales „Recht der ersten Nacht“ geltend macht. Die beiden Opern, denen Stücke aus der „Figaro“-Trilogie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais zugrunde liegen, eröffneten nun die Spielzeit im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden. Intendant Uwe Eric Laufenberg hatte trotz der Corona-Restriktionen an der aufwendigen Doppel-Premiere an zwei aufeinanderfolgenden Abenden festgehalten.

Rossinis „Il barbiere di Siviglia“ wie auch Mozarts „Le nozze di Figaro“ werden vor 200 Zuschauern und unter Einhaltung der gängigen Abstands-und Hygieneregeln gespielt, die auch für das Hessische Staatsorchester gelten. Knapp zwei Dutzend Musiker haben so im Orchestergraben Platz, wenngleich Tilo Nest seine Rossini-Regie auf offener Bühne so beginnen lässt, als ob eine konzertante Aufführung zu erwarten stünde, also mit weit auseinandergerückten Stühlen und Notenpulten.
Heimliche Liebschaften im Orchester

Gezielt durcheinander gehen musikalische Funktionen und Rollenzuweisungen im Spiel: Einerseits tragen die Darsteller immer wieder Instrumente bei sich, Rosina eine Geige und Figaro einen Kontrabass, andererseits gibt es heimliche Liebschaften offenbar auch im Orchester, von Dirigent Konrad Junghänel sogleich stramm sanktioniert. Das macht, auch als er und das Orchester ihren Platz im Graben gefunden haben, das Geschehen nicht eben übersichtlich, zumal sich huschende Maskenträger und stumm bleibende Instrumentalisten in die Szene verlieren.

Dass ausgerechnet in der Regie des ausgebildeten Schauspielers Nest so wenig Spielfreude aufkommt, irritiert allerdings. Müde Musikerzoten, erzählt von einem Figaro im Hausmeisterkittel, folgen auf berechenbare Gags wie den beiden schrecklich dissonanten Eröffnungsakkorden der Ouvertüre, Resultat scherzhaft auf den Kopf gestellter Notenblätter. Das ist nicht lustig, und das zündet auch aus einem anderen Grund nicht: Der schleppende, einheitlich langsame, in der kompakten Besetzung eigentlich bläserbetonte Rossini-Klang, den Dirigent Junghänel ausbreitet, legt sich wie Blei über diese Neuproduktion, die seitens des Solisten doch eigentlich viel Potential zum Funkeln und Strahlen hat.

Denn Ioan Hotea ist am Premierenabend ein tenoral kraftstrotzender Graf Almaviva, Christopher Bolduc ein elegant singender Figaro und Silvia Hauer eine Rosina, die treffend ihr Mezzo-Fundament mit lockeren Koloraturen verbindet. Der Einzige, der die szenische Idee vollends mit Leben füllen kann, ist der erfahrene Sängerdarsteller Thomas de Vries, der in der Rolle des Bartolo die Kontrolle über sein Mündel Rosina abgeben muss. Als hinreißend komisches Double des Komponisten Rossini gelingt es de Vries sogar, die Musik mit quirligen Koloraturen zu beschleunigen.
Keine Verbindung zwischen den beiden Opern

Großartige vokale Leistungen prägen auch den zweiten Teil der Doppel-Produktion. Doch eine szenische oder auch nur gedankliche Verbindung der beiden Opern unterbleibt. Eine verpasste Chance, die sich mit einer Regie aus einer Hand besser hätte nutzen lassen. So bleibt als szenische Klammer das historisierende Portal, das Bühnenbildner Gisbert Jäkel für beide Produktionen errichtet hat. Tom und Jerrys wirklich witzige Zeichentrick-Version von Rossinis Auftritts-Arie des Figaro hat Laufenberg seiner Regie der „Hochzeit des Figaro“ vorangestellt, danach geht Mozarts Oper szenisch weitgehend unauffällig über die historisch gehaltene Bühne, die mitsamt den Kostümen (von Jessica Karge) klar auf die vorrevolutionäre Entstehungszeit der Oper Bezug nimmt.

Dass Laufenberg alle Abstandsregeln zwischen den – corona-getesteten – Darstellern aufhebt, erlaubt immerhin, die Handlung mit einer lebendigen Personenregie nachzuzeichnen, in der auf dichtem Raum geküsst und geschlagen wird, auch wenn bis zum Verzicht des Grafen auf sein Recht manche szenische Durststrecke zu überwinden ist. Der Gesang des gesamten, enorm geschlossen wirkenden Ensembles hilft dabei freilich bestens, allen voran Benjamin Russell als baritonal geschmackvoller Graf Almaviva, Slávka Zámecniková als sinnliche Gräfin, Anna El-Khashem als reflektierte Susanna sowie Konstantin Krimmel als gleichermaßen elegant wie beweglich singender Figaro.

von Christiane Franke
klassik.com
08.09.2020

Subtile Revolte

Oper an allen Orten, ja das gibt es wieder, aber in voller Länge nur am Staatstheater in Wiesbaden und jetzt auch mit Berührung und Küsschen, wie man es eben kennt. So geschehen zur jüngsten Premiere von Mozarts ‚Die Hochzeit des Figaro‘ im Rahmen eines ‚Figaro-Triple‘ zum Saisonauftakt am Staatstheater Wiesbaden. Nach der Samstags-Premiere mit ‚Der Barbier von Sevilla‘ folgte am Sonntagabend ‚Die Hochzeit des Figaro‘. Das Schauspiel ‚Figaro lässt sich scheiden‘ von Ödön von Horváth ergänzt diesen Reigen. Die Premiere folgt coronabedingt in zeitlichem Abstand zu diesem Opern-Duo.

 

Positionierung

Intendant Uwe Eric Laufenberg, verantwortlich für die Inszenierung von Mozarts vieraktiger Opera buffa, positionierte sich damit einmal mehr in seinem Engagement um Grundrechte und Kultur in Corona-Zeiten, nicht minder emotional und provozierend wie in seinen Solo-Diskursen, nur wählte er in diesem Fall einen subtileren Weg. Wer Tilo Nests spritzigen ‚Barbier von Sevilla‘ am Vorabend erlebt hatte, mochte stutzen. Das Figaro-Triple an sich suggerierte Fortsetzung einer wie auch immer kritischen Deutung. Verstärkt wurde diese Erwartungshaltung durch das Vorspiel zur Ouvertüre, die Einblendung des berühmten Figaro-Cartoon mit Tom und Jerry aus den 1960er Jahren als augenzwinkernde Zusammenfassung von Rossinis ‚Der Barbier von Sevilla‘. Auch im Bühnenbild knüpfte man an. Gisbert Jäkel hatte die für die Rossini-Premiere eingesetzte Balkonszenenfassade in der ersten Szene von ‚Die Hochzeit des Figaro‘ eingebaut. Spätestens ab dem ersten Kulissenwechsel war jedoch klar, dass nichts so sein würde wie am Vorabend. Laufenberg […] lenkte den Fokus auf die Turbulenzen einer Gesellschaft, die einzig damit beschäftigt ist, dass er sie und sie nur ihn bekommt, hintergeht, betrügt, ersehnt, und das in einer zeitlosen wie unkritischen Gegenwart. Intensität wie Stimmigkeit erzielte er dabei durch eine in jeglicher Hinsicht ausgeklügelte Personenregie mit reichlich Raum für Entwicklung und Ausdruck der Charaktere.

 

Fest der Stimmen

So erlebten die 200 Besucher ‚Die Hochzeit des Figaro‘ vor allem als ein Fest der Stimmen und der Spiellust, denn ausnahmslos jede und jeder der Solisten verstanden es, ihre Partien mit Leben auszufüllen und emotionale Empfindlichkeiten stimmlich nuanciert auszuloten, allen voran Heather Engebretson, überzeugend pubertär-knabenhaft in der Hosenrolle als Cherubino, Anna El-Kashem als entschieden selbstbewusste wie quirlige Susanna mit zartesten Tönen in ihren sinnlichen Arieninterpretationen, Slávka Zámečníková als kluge Gräfin Almaviva mit strahlendem Klang und Konstantin Krimmel als stimmlich wie charakterlich überraschend sensibler Figaro.
Kühne Taten
Benjamin Russel zeichnete Graf Almaviva als herrischen Großgrundbesitzer und Geschäftsmann, der auch mit seelenvollen Tönen zu überraschen verstand. […]
Darauf konzentrierte Konrad Junghänel, Grandseigneur der kammermusikalisch ausgerichteten und historisch orientierten Aufführungspraxis, die Interpretation. Unter seiner Leitung gelangen dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden in einer für Mozart üblichen kleineren Besetzung Klarheit selbst in den turbulentesten Augenblicken, zarteste Momente und orchestrale Fülle. Der Chor, wie am Abend zuvor in kleiner Besetzung und dezent auf Abstand agierend, sang die huldvollen Partien überzeugend. So erlebte das Publikum genussreiche dreieinhalb Stunden, wobei man die Sänger immer wieder auf Tuchfühlung erlebte, wenn auch dezent, was der Darstellung aber eher intensitätssteigernd entgegenkam.
Auf Tuchfühlung
Alles wie gewohnt also, wären da nicht andere Opernhäuser, die Programme gnadenlos reduzieren, Freiluftorte zum Auftritt vorziehen, Publikumspausen streichen, Abstände verordnen und maximal reduzierte Kammerbesetzung auf der Bühne gestatten trotz Corona-Tagebüchern, reihenweiser Tests, streng eingehaltener Hygiene-Konzepte und sonstiger Vorsichtsmaßnahmen.
Dass in der Tat viel mehr geht, bewies Laufenbergs Regiearbeit, unmissverständlich in der Schlussszene provoziert, als alle das herrlichste Glück besangen und aufeinander losstürmten, sich berührten, umarmten, sich schließlich verbeugten, Schulter an Schulter, Hand in Hand, mit und ohne Mund-Nasenschutz gemäß der Empfehlungen im Bereich ‚Vorstellungs- und Probenbetrieb‘, der dem Einzelnen im letzten das Recht zugesteht, für sich zu entscheiden, was gut tut.

 

 

Judith von Sternburg
Frankfurter Rundschau
08.09.2020

Alles halb so wild

 

Mozarts Weisheit nimmt Gestalt an im grandiosen Wiesbadener Ensemble für „Die Hochzeit des Figaro“
[…] Selbst diese Musik klingt in der sparsamen Besetzung noch lichter und luzider als sonst, die Sängerinnen und Sänger danken es mit einer selten so fein gehörten, detaillierten, Ton und Text in perfekte, humorvolle Übereinstimmung bringenden Darbietung (wieso darf eigentlich Richard Wagner das Alleinrecht für das „Gesamtkunstwerk“ beanspruchen).
Es wird zudem nicht nur vorzüglich gesungen, die Darstellerinnen und Darsteller sehen auch fabelhaft aus dabei (geschmackvolle Kostüme: Jessica Karge): Konstantin Krimmel als auch stimmlich jugendlich frischer Titelheld und seine Susanna, Anna El-Kashem mit ihrem golden leuchtenden Sopran; Graf Almaviva, der vehemente Benjamin Russell mit Problemhaar à la Boris Johnson und die Gräfin, Slávka Zámecníková, deren lyrisch-melancholisches Timbre gerade recht kommt, wenn man sich an süßen Frauenstimmen sattgehört hat. An „Tom und Jerry“ erinnert der Auftritt von Heather Engebretson als makelloser, erotisierender Cherubino. Das vorläufige Trio infernale Franziska Gottwald, Erik Biegel und Wolf Matthias Friedrich als Marcellina, Basilio und Bartolo ist keck und arg genug. Über der […] lebendigen Aufführung liegen jedoch insgesamt eine unaufdringliche Selbstironie und eine weise Sanftmut, die hier draußen auch schön wären.

 

 

Wiesbadener Kurier,
von Volker Milch
08.09.2020

Der Mozart mit der Maus

 

[…] Von geradezu beglückender Qualität ist dieser neue „Figaro“, der […] auch szenisch mit dem Einsatz von theatralischem Herzblut schlägt, in der Qualität seiner Besetzung. Konstantin Krimmel, der zuletzt mit einem sensationellen Liederabend in Wiesbaden gastierte, ist in der Fülle seines kultivierten Wohllauts ein hervorragender Figaro. Benjamin Russell lässt mit kraftvoll gereiftem Bariton als Graf Almaviva auch die Brutalität seines Machtmissbrauchs durchblicken. Ohnehin schärft Laufenberg seine Personenführung immer wieder sinnvoll. Etwa, indem er in der vierten Szene des 3. Aktes den eigentlich solistischen Auftritt des Grafen um die provozierende Präsenz des aufmüpfigen Paares Figaro und Susanna erweitert. Ein bisschen Revolution muss sein. Anna El-Khashem ist Figaros sinnlich aufblühende Braut, während Slávka Zámecníková das „Dove sono“ der Gräfin in edle Melancholie kleidet. Erfreuliches Wiederhören gibt es unter anderen mit Heather Engebretson als Cherubino, Franziska Gottwald als Marcellina, Erik Biegels Basilio, Stella An als Barbarina und Wolfgang Vater als Antonio. Das Publikum feiert Solisten, Orchester und Chor (Albert Horne) anhaltend.
Die „Figaro“-Besetzung gehört zum Besten, was man (nicht nur) in diesem Staatstheater in den vergangenen 30 Jahren gehört hat.